Frühenglisch, Förderkurse, Musik, Sportverein und Nachhilfeunterricht – und das alles neben dem Pflichtprogramm an der Schule. Unsere Kinder leisten oft mehr Arbeitsstunden als Erwachsene. Der permanente Leistungsdruck und der fehlende Freiraum haben fatale Folgen: Burnout-Patienten werden immer jünger.

Von Andreas Diethelm


Vera Reumer* war stolz auf ihren Sohn. Der 14-jährige Loris gehörte zu den Besten seiner Klasse. Dafür gesorgt haben auch Mama und Papa, welche die schulische Laufbahn und die Freizeit ihres Sohnes akribisch planten: Zweimal die Woche Nachhilfe in Mathematik und Französisch, Gitarrenunterricht, Handballtraining, Pfadi am Samstag und immer wieder: nach dem Abendessen die Hausaufgaben gemeinsam durchgehen. «Wir wollten einfach alles richtig machen», sagt Vera Reumer rückblickend.

Kinder haben keine Zeit zum Spielen
Es ist ein Wunsch, mit dem die Reumers nicht alleine dastehen: Der elterliche Ehrgeiz, das Beste aus ihren Kindern herauszuholen, ist gewachsen. Wir leben in einer schnelllebigen und digitalisierten Welt. Der Leistungsdruck nimmt zu. Darauf müssen Kinder vorbereitet werden, meinen zumindest die Eltern. Ein Wochenpensum von 50 bis 60 Stunden ist mittlerweile keine Seltenheit.

Mehr als jedes dritte Kind im Alter von sechs bis zwölf Jahren beschwert sich, dass das Spielen wegen anderer Aufgaben und Termine zu kurz komme. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstituts iconkids & youth. Und je älter die Kinder, desto voller der Terminkalender: Jedes zweite Kind im Alter von zehn bis zwölf Jahren muss wegen Hausaufgaben, Musikunterricht, Sportverein oder sonstiger Verpflichtungen ganz auf das Spielen verzichten.

Bis Loris nicht mehr konnte
Auch wenn sich Kinder und Jugendliche für viele Dinge begeistern und durchaus mit guten Noten glänzen möchten, übersehen Mütter und Väter in ihrem Fördereifer oft etwas Entscheidendes: Kinder haben ein feines Gespür dafür, was den Eltern gefällt. Kinder glauben plötzlich selber, dass ihnen ein zusätzliches Hobby gut tut. Zunehmend verlieren sie das Gefühl für ihren Körper.

«Zuerst klagte Loris immer wieder über Bauchweh.» Sicher nichts Schlimmes, dachte Vera Reumer zu Beginn. Als starke Kopfschmerzen und Übelkeit dazukamen, ging die Mutter zum Kinderarzt. Doch Loris war kerngesund. Erst die Überweisung zu einem Therapeuten brachte Klarheit. Die Diagnose war ein Schock: Überforderung durch Stress, kurz Burnout. «Wir fühlten uns schlecht. Anstatt unseren Sohn zu fördern, haben wir ihn die ganz Zeit überfordert», sagt die 42-Jährige. Heute geht es Loris besser, die Familie hat aus ihren Fehlern gelernt.

Gestresste Eltern, gestresste Kinder
Loris’ Geschichte ist kein Einzelfall: Jedes vierte Kind hat psychische Probleme, ausgelöst durch Stress und Überforderung. Ausgelöst auch durch Eltern, die selbst unter grossem Druck stehen und eigene Wünsche in ihre Kinder projizieren. Experten raten darum: Mut zur Gelassenheit und Zeit, über welche die Kinder frei verfügen können. Für eine nachhaltige Entwicklung des Kindes ist es enorm wichtig, dass ihm die Eltern zuhören – etwa beim gemeinsamen Abendessen. Ein Kind muss seine Gedanken und Ängste mitteilen können. Häufig aber sind die Erwachsenen genauso überlastet und im System gefangen. Sie müssen sich zuerst selbst finden, bevor sie für ihre Kinder da sein können.

Die neuen Medien und die 24-Stunden-Gesellschaft verschärfen die Problematik. Der Austausch findet bei Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen zunehmend über Facebook, SMS und Co. statt. Das führt zu einer schleichenden Vereinsamung und macht das persönliche Gespräch noch schwieriger. Und: Die digital addicts werden immer jünger – bereits in der Mittelstufe hat fast jedes Kind ein Smartphone mit Internetzugang.

Reden, reden, reden
Eine professionelle Beratung hilft, das Eis zu brechen – und Warnzeichen zu erkennen. Wer sich Zeit nimmt, die verzwickte Situation zu analysieren, löst damit einen Prozess aus. Eltern und Kinder finden wieder zueinander. Je früher das passiert, desto besser: Kinder müssen lernen, auf ihren Körper zu hören. Wer sich an Stress gewöhnt, funktioniert eine Zeit lang – bis die Festplatte explodiert. Lag das Durchschnittsalter für Burnout-Patienten vor 15 Jahren noch zwischen 40-50 Jahren, sind heute immer mehr 30-Jährige betroffen – oder bereits Teenager, wie Loris’  Fall zeigt.

Unstrukturierte Zeit zulassen
Kinder zeigen oft nicht direkt, wenn es ihnen zu viel wird. Sie reagieren mit unspezifischen Symptomen wie Kopf- und Bauchschmerzen oder ziehen sich zurück. Andere wiederum werden hyperaktiv oder aggressiv. Und dann gibt es die Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die jegliche Leistung verweigern, aus Angst, zu versagen. Damit es nicht so weit kommt, brauchen Kinder Freiraum. Das heisst: viel unstrukturierte Zeit, in der sie auch mal vor sich hintrödeln oder träumen dürfen oder mit anderen Kindern spielen können. Neurobiologische Untersuchungen beweisen ausserdem, dass Kinder gerade beim freien Spielen ihre Talente und ihr kreatives Potenzial entdecken und weiterentwickeln. Ein Grund mehr für Eltern, ihrem Kind die schönste Erfahrung zu ermöglichen, an die wir uns als Erwachsene alle gerne zurückerinnern: einfach nur Kind sein zu dürfen.

* Alle Namen geändert